Wie lebt man in der Gewissheit einer übernatürlichen Realität? Ein Interview mit Jörg Ahlbrecht
Dominik Klenk spricht mit Jörg Ahlbrecht über das Buch "Gott. Du musst es selbst erleben." von Dallas Willard (engl. "Divine Conspiracy"). Sie reden u.a. über Glaube in Zeiten der Krise und wie man mit Dallas Willard das Leben im Reich Gottes einüben und mitgestalten kann.
Dominik: Ich erinnere mich an einige Willow Kongresse, auf denen ich war. Das Thema Leiterschaft war oft sehr weit vorne. Was liegt im Moment, in der Nach-Corona-Zeit in der Luft? Was spürst du, was die Gemeinden am meisten bewegt? Worauf gab es die größte Resonanz?
Jörg: Das Entscheidende waren für mich bei Willow Kongressen nicht die Vorträge zum Thema Leiterschaft. In all den Jahren waren das eher immer wieder Momente, in denen man plötzlich merkte: Jetzt berührt Gott Herzen. Ich mein das nicht so, dass irgendwas emotional aufgeheizt war, sondern was sehr Tiefgehendes, was oft durch Kunst, Theater, Musik oder auch durch Vorträge entstand. Da entstanden Momente, in denen Menschen plötzlich eine ganz intensive Erfahrung hatten, nach dem Motto: Gott hat meine Seele berührt. Und das ist für mich die Quelle der Veränderung von Kirche, wenn Menschen aus dieser Berührung heraus agieren und anfangen, neu zu leben. Ihr eigenes Leben zu gestalten, ihr Gemeindeleben zu gestalten, ihre Verantwortung als Leiterin oder Leiter zu gestalten. Dann wird daraus etwas, was eine neue Qualität hat. Und das haben wir dieses Mal wieder enorm erlebt – auf eine wirklich intensive Weise, die irre war. Ganz viele Leute waren offensichtlich tief berüht! Das können wir ja nicht bewirken. Wir können mit so einem Kongress einen Raum schaffen und hoffen und beten, dass es passiert. Aber wir können es nicht orchestrieren. Leitung ist dann Mittel zum Zweck. Wir erleben, dass das Thema "Geistliche Reife", "Leben im Glauben", "Spiritualität" in den letzten Jahren massiv zunimmt.
Könnte es damit zusammenhängen, dass die "Es-geht-uns-allen-wunderbar"-Mentalität der 90er und 00er-Jahre, wo Deutschland und Mitteleuropa sehr in Frieden und in Ruhe war, dass die durch Corona, durch Krieg, durch Krise mehr und mehr verlorengeht?
Absolut. Ich würde sagen, die Krise war eine Offenbarung oder hat zu Tage gefördert, dass wir es an vielen Stellen von Kirche es nicht geschafft haben, Menschen wirklich in der Tiefe mit dem Glauben zu berühren. Sondern dass wir ganz viel Konsumenten-Christentum haben. Leute, die einfach eine Veranstaltung besucht haben und es als religiösen Zusatz für ihr Leben gesehen haben. Das aber in der Tiefe nicht das passiert ist, was Jesus "die Freude über den Schatz im Acker" nennt. Das Leute etwas gefunden haben bei ihm, was sie zutiefst begeistert und was alles andere in den Schatten stellt. Die Krise hat offenbart, dass ganz viele Leute Programme konsumiert haben und dann während der Krise fragten: "Warum mach ich das eigentlich? Zuhause ist auch ganz schön!" Aber wir sehen hier eine deutliche Offenbarung eines Zustandes, wo ganz viele Leute jetzt auch die Frage stellen: "Wie erreichen wir eigentlich, was wir wollen – dass Menschen aus einer inneren eigenen Überzeugung heraus Jesus folgen, von ihm lernen und mit ihm unterwegs sind?" Ich glaube, dass da auch eine riesen Chance drin liegt, dass wir mit relativ ungeschönter Wahrnehmung sehen, wie der Zustand der Kirche zur Zeit in Westeuropa aussieht. Die Frage ist, wie wir jetzt gegensteuern können, wenn wir zurückkehren wollen zu dem, was Kirche eigentlich mal sein sollte.
Etwas überspitzt gesagt also: Jesus oder der Glaube nicht als Puzzleteil meiner Selbstoptimierung, sondern als die Basis, der tragende Boden, auf dem das Puzzle meines Lebens liegt?
Absolut. Wieder zurückkehren zu dem, wer ich eigentlich als Mensch bin. Ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, was eigentlich die Realität ist und in welcher Weise das Reich Gottes wirklich wahr und die bestimmende Realität unseres Kosmos ist. Wie stark glaube ich das wirklich? Und daraufhin eben auch sein Leben ausrichten.
Das ist eine schöne Brücke: Der radikale Ausblick auf "Was ist eigentlich der Mensch?" und "Wer ist eigenltich Gott?". Neben deinem Engagement bei Willow bist du seit vielen Jahren als Theologe unterwegs, als Maulwurf auf der Suche nach gutem Humus, der den Glauben nährt. Hierbei bist du einem Lehrer begegnet, der dich ganz besonders geprägt hat: Dallas Willard. Wann und wie war deine erste Begegnung mit ihm? Was ist das Aroma, das sich durch Dallas Willard in deinem Glaubensleben entfalten durfte?
Das ist 25 Jahre her, dass ich in Chicago war. Ich habe damals als Pastor in einer Baptistengemeinde gearbeitet und die Möglichkeit gehabt, zu einer Intensiv-Schulungswoche nach Chicago zu fahren zu Willow Creek. Dort stieß ich auf ein neues Schulungsmaterial von John Ortberg, der das gerade testete. Das war so ein Jüngerschafts-Kurs, wie man einen ganz normalen Tag mit Jesus verbringt. Ich war völlig begeistert von diesem Ansatz, wie man unser alltägliches Leben in einer tieferen Verbindung mit Jesus leben können. Wenn ich einkaufe, wenn ich Auto fahre, wenn ich fernsehe, wenn ich am Arbeitsplatz bin – wie gelingt es mir, in diesen Situationen des Alltags dichter und enger mit Jesus verbunden zu sein. Ich war so fasziniert von dem Material, dass ich es übersetzt habe und in meiner eigenen Gemeinde angeboten habe. Bei der Übersetzung des Original-Materials stieß ich auf die Widmung. Das Buch war gewidmet an den Lehrer Dallas Willard ...