Jordan Peterson: Kleine Schritte, große Veränderungen
In «Die Essenz des Seins» entwirft Jordan B. Peterson zusammen mit Jonathan Pageau eine umfassende Landkarte der menschlichen Identität und Verantwortung. Das Buch zeigt, wie unsere individuelle Identität in den Kontext gemeinschaftlicher Verbundenheit eingebettet ist. Ein Auszug aus dem Buch.
Als mein Sohn anderthalb Jahre alt war, brachte ich ihm bei, wie man einen Tisch deckt. Das stimmt natürlich nicht ganz, denn mit anderthalb Jahren kann man noch keinen Tisch decken. Wenn ein Zweijähriger sein Zimmer verwüstet hat und Sie sagen: «Räum dein Zimmer auf», ist das Zimmer nach fünfzehn Minuten genauso unordentlich wie vorher. Und wenn Sie den Kleinen dann fragen: «Warum hast du dein Zimmer nicht aufgeräumt?», wird er Sie nur erstaunt ansehen.
Der Grund dafür ist, dass er nicht weiß, was «Räum dein Zimmer auf» bedeutet. Was Sie aber tun können, ist, dem Zweijährigen zu sagen: «Hey, Kleiner, siehst du den Teddy dort?» Über diese Frage freut er sich. Denn mit seinen zwei Jahren kann er das schon: einen Teddybären wahrnehmen. Er wird also seine Augen auf den Teddy richten, und dann wird er Sie ansehen, und Sie können ihm den Kopf tätscheln und sagen: «Gut.»
Anschließend können Sie ihm vorschlagen: «Geh doch mal da rüber und heb den Teddy auf.» Das tut er dann und schaut Sie wieder an. Und dann können Sie fragen: «Siehst du die Lücke im Regal dort?» Und wenn er «Ja» sagt, erwidern Sie: «Da setzt du den Teddy jetzt rein.» Und so geht der Junge hin und setzt seinen Teddy in die Lücke im Regal. Er wird Sie danach wieder anschauen und Sie können ihm wieder den Kopf tätscheln.
Wenn Sie Ihrem Kind sehr behutsam hundert solcher Mikroroutinen beibringen, können Sie ihm irgendwann sagen, dass er sein Zimmer aufräumen soll, und er wird wissen, wie es geht. Das ist der Weg, wie wir zu echten Menschen werden.
Natürlich handelt es sich hierbei um eine sehr kleine Vision. Ja, sie ist klein. Genauer gesagt ist es eine Mikrovision davon, wie das Zimmer aussähe, wenn der Teddybär an seinen Platz gelegt würde. Es ist keine glorreiche Makrovision davon, wie Himmel und Erde zu vereinen sind, aber es sind doch die ersten Anfänge genau dieses Prozesses. Wir hangeln uns an einem Gerüst vom Endlichen zum Unendlichen empor und das Gesamtgerüst macht unsere Identität aus.
Mein kleiner Sohn soll mir also helfen, den Tisch zu decken. Zunächst frage ich ihn: «Kleiner, weißt du, wo die Schublade mit den Messern und Gabeln ist?» Darauf antwortet er: «Ja.» Dann sage ich: «Geh zur Schublade, mach sie auf und nimm eine Gabel heraus.» Und so geht er hin und tut das. Die Gabel kann er zwar nur ertasten, denn die Schublade befindet sich über seiner Augenhöhe, aber trotzdem schafft er es, sie mir zu bringen.
Daraufhin bitte ich ihn: «Nimm sie mit ins Esszimmer und leg sie auf den Tisch neben den Teller.» Auch das schafft er. Danach bekommt er dasselbe mit einem Messer hin. Und schließlich sogar mit einem Teller, zumindest, wenn man es wagt, ihn einen Teller tragen zu lassen.
Was lernt er dabei? Er lernt Tischdecken. Bald sitzt er mit anderen Menschen an einem Tisch und lernt, wie man Essen miteinander teilt, Rücksicht nimmt und sich in Gastfreundschaft übt. Man kann also sehen, dass sich das alles allmählich steigert.
Irgendwann lernt er sogar, hier und da seine eigenen Bedürfnisse hintanzustellen. Er entwickelt sich zu einem braven Jungen, einem guten Kind. Das wiederum ist Teil seiner Aufgabe, seine angemessene Rolle in der Familie einzunehmen. Im weitesten Sinne ist das eine Form des Teilens. Dies macht ihn also auch zu einem guten Spielkameraden. Schließlich ist er so weit, dass sogar sein größeres Umfeld ihn als potenziellen Freund wahrnimmt. Kurzum: Er beginnt zu reifen.
Mit zunehmender Reife erweitert sich schrittweise der Umfang seiner Vision, bis sie nicht mehr nur das umfasst, was er kurzfristig will, sondern auch das, was mittel- bis langfristig gut für ihn ist. Der zeitliche Rahmen seiner Vision weitet sich also aus. Und zwar nicht nur, damit er erreicht, was ihm selbst wohltut, sondern damit in zunehmendem Maß auch andere Menschen darin Platz finden können.
Wenn man in dieser Weise schließlich zu handeln beginnt, wie Erwachsene es tun, kann man für sich selbst Verantwortung übernehmen ...
Aus: «Die Essenz des Seins» von Jordan B. Peterson & Jonathan Pageau (S.16-20)