Rock Me, Dostojewski!
Mit Dostojewski kann man nichts falsch machen.
Dachte sich auch Marilyn Monroe, als sie sich Anfang der fünfziger Jahre bei dem Regisseur Samuel Fuller um eine Filmrolle bewarb. Um ihr Image als oberflächliche Blondine zu bekämpfen, kam sie mit einem dicken Buch unterm Arm zum Vorsprechen. Mit dem Wälzer wollte sie Eindruck machen. Es war ein Buch von Dostojewski. Der Name stand für maximalen Tiefgang.
Steht er heute noch.
Aber eben auch für Vergangenheit.
Was hat ein toter, tief aus dem 19. Jahrhundert kommender Russe uns im 21. Jahrhundert zu bieten?
Wie wär’s mit: Wahrheit? Wirklichkeit? Weisheit? Dostojewski rockt.
Get ready.
Auf den meisten Bildern, die es von ihm gibt, wirkt er etwas freudlos. Das bekannteste Porträt stammt aus dem Jahr 1872. Da schrieb er gerade an dem Buch «Die Dämonen» und fühlte sich zeitweise auch, als wären böse Geister hinter ihm her.
Der Maler Wassili Perow zeichnet ihn mit matten Augen und mit nach innen gekehrter Miene. Dabei konnte er auch ganz anders schauen: mit leuchtendem Blick, berauscht von Mensch und Natur. Dostojewski war beinahe so vielschichtig, wie seine Bücher Seiten haben. Ein Titan – und zwar nicht nur in literarischer Hinsicht. Er überragt bei Weitem die klischeehafte Vorstellung, die viele Menschen von ihm haben. Dass er irgendwie schwierig ist. Dass seine Bücher doch bloß von den dunklen Seiten des Lebens handeln. Harte Kost, beinahe unverdaulich für moderne Zeitgenossen.
Stimmt.
Das sagt aber mehr über unsere Zeit aus als über ihn.
Wenn er zu tief ist, sind wir zu flach.
Dostojewski zu lesen strengt an. Aber es rüttelt auch auf. Und wenn man sich an seinen stilistischen Groove gewöhnt hat, unterhält es auch prächtig. Von spaßfrei kann bei ihm keine Rede sein. Dostojewski sitzt der Schalk im Nacken. Und er betrachtet die Welt nicht mit trüben, sondern mit strahlenden Augen. So wie auf dem Cover dieses Buchs.
Unbestritten sind Dostojewskis Qualitäten als Autor. Er gilt als ein großer Schriftsteller.
Zu Unrecht, finden wir.
Er ist aus unserer Sicht noch mehr. Er ist der Größte.
Weil er mehr als nur fesselnd erzählen konnte. Er war auch Gesellschaftskritiker, Menschenkenner, Futurist, Philosoph, Seelsorger. Seine Tätigkeit beschränkte sich längst nicht nur auf die Belletristik. Er leitete ein Medien-Start-up, arbeitete als Journalist, betätigte sich mit dem «Tagebuch eines Schriftstellers» als Vorläufer heutiger Blogger. Dabei folgte er keinen Moden, sondern setzte die Trends.
Ein Innovator, ein Rebell, ein Punk.
In puncto Produktivität konnte es keiner mit diesem Tausendsassa aufnehmen. In gerade mal fünfundzwanzig Jahren beruflicher Aktivität veröffentlichte er um die 20 Romane und Novellen, dazu rund 20 Kurzgeschichten, über 200 Aufsätze, hinterließ mehr als 700 Briefe.
Was für ein Werk.
Und was für Werke!
Die Highlights sind bekannt, aber oft nicht in ihrer bahnbrechenden Bedeutung gewürdigt: Die philosophisch-psychologisch-theologischen Kriminalromane «Schuld und Sühne» und «Die Brüder Karamasow»; der epische Kleinstadt-Thriller «Die Dämonen»; das tragisch-monumentale Antihelden-Meisterwerk «Der Idiot»; die Randgestalten-Soaps «Arme Leute» und «Erniedrigte und Beleidigte»; das Psycho-Drama «Der Doppelgänger»; die Gefängnis- Memoiren «Aufzeichnungen aus einem Totenhaus»; der existentialistische Aufschrei «Aufzeichnungen aus dem Kellerloch»; die Zockerei-Anatomie «Der Spieler»; die Träumerei-Romanze «Helle Nächte»; die Moral-Posse «Eine dumme Geschichte»; die Kapitalismus-Groteske «Das Krokodil»; die Spuk-Komödie «Bobok»; die Dreiecks-Geschichte «Der ewige Gatte»; die Suizid-Aufarbeitung «Die Sanfte»; die fiebrige Science-Fiction-Erzählung «Traum eines lächerlichen Menschen».
Und erst die Charaktere!
Lauter unvergessliche Typen: wie der Weltverbesserungs-Raubmörder Raskolnikow, der Christus-Narr Myschkin, der Dunkel-Fürst Stawrogin, der Klugscheißer-Kosmopolit Wersilow, die heilige Hure Sonja, die verführerischen Diven Nastassja und Gruschenka; die Glaubenslehrer Makar und Sossima; und schließlich der ganze Karamasow-Clan, banal und grandios, mit Lustmolch Papa Fjodor und seinen Söhnen: Playboy Dimitri, Verstandesmensch Iwan, Hoffnungsträger Aljoscha und Bastard-Freak Smerdjakow.
Es ist eine Lust, Dostojewski zu lesen.
Aber Vorsicht!
Wer sich am Feierabend in eine stille Ecke zurückzieht, die Leselampe anknipst und mit Dostojewski chillen will, muss sich darauf gefasst machen, bald senkrecht im Zimmer zu stehen. Denn die Bücher rütteln auf, elektrisieren, schockieren. Krawumm statt Düdeldü. Keine Bässe dröhnen tiefer als die aus Dostojewskis Kellerloch, und nie zwitschern die Vögel heller als unter seinem Himmelsgewölbe. Er fährt uns in die Magengrube und füllt uns das Herz. Er entführt uns nicht in weit entfernte Welten, sondern tief ins eigene Ich. Er konfrontiert uns mit den großen Fragen auch unserer eigenen Zeit. Er ist auf verstörende Art hochaktuell.
Woran liegt das?
Dostojewski lebte zwar im vorvorigen Jahrhundert. Aber die damaligen Herausforderungen sind gar nicht so anders als die heutigen.
Die drei Mega-Trends waren Globalisierung, Individualisierung, Industrialisierung. Ersetzt man das letztgenannte Wort durch «Digitalisierung», sind das dieselben Veränderungs-Katalysatoren wie heute. Auch damals wurden Grenzen verschoben, Strukturen aufgebrochen, neue Potenziale und alte Ängste freigelegt. Die alten Eliten wurden abgelöst oder zumindest geschwächt. In den Familien verschoben sich die Kräfteverhältnisse langsam, aber sicher von den Alten zu den Jungen, von den Männern zu den Frauen.
Was zu Dostojewskis Zeiten aufkeimte, blüht längst oder welkt schon. Er sah viele Entwicklungen voraus, war besorgt um die Zukunft «unseres mächtigen, selbstgewissen und gleichzeitig kranken Jahrhunderts, das voll ist von noch ungeklärtesten Idealen und unstatthaftesten Wünschen» (Tagebuch eines Schriftstellers, Juni 1876).
Die Fragen, die damals in der Oberschicht aufblitzten, sind inzwischen auch auf die Basis heruntergerieselt: Ist da oben wer? Wenn nicht, und wenn doch – was folgt daraus? Wer ist der Mensch, und was ist seine Bestimmung, wenn es überhaupt einen höheren Sinn gibt?
Mit diesen Fragen ringt Dostojewski sein ganzes Leben lang. Er nennt sich ein «Kind des Zweifels» und liegt damit genau auf der Wellenlänge der meisten unserer Zeitgenossen.
Seine Antworten, die er unter anderem in Strafgefangenenlagern und in Klöstern fand, verpackt er nicht in subtilen Formulierungen, sondern proklamiert sie knallhart. Als chronischer Nonkonformist ist er alles, nur nicht politisch korrekt, und immer zwischen allen Stühlen. Den Rechten zu progressiv, den Linken zu konservativ. Er beginnt als revolutionärer Romantiker und endet als traditions- bewusster Realist. Mit seinem Roman «Die Dämonen» schafft er es, gleichzeitig die Aufklärungs-Apostel und die frommen Saubermänner zu verärgern. Weil einige Passagen obszön wirken, werden sie erst Jahrzehnte später veröffentlicht. Dostojewski ist ein Agent der Disruption, der heilsamen Unterbrechung.
Dabei äußerte sich Dostojewski nie von oben herab. Er war ein Mann der Basis, stellte das Bekenntnis zu den einfachen Menschen ins Zentrum seiner schriftstellerischen Arbeit. Seine größte Sympathie galt denen, die keine oder nur eine schwache Lobby hatten: Frauen, Kindern, auch Tieren.
Ihre Tiefe verdanken die Bücher von Dostojewski seinem ganzheitlichen Weltverständnis. Er betrachtete die Menschen nicht isoliert, sondern immer in ihren Beziehungsverhältnissen: horizontal und vertikal, zu den Mitmenschen und zu Gott. Liebe, Glaube und Hoffnung sind die Dimensionen seines Denkens. Deshalb greifen alle wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit ihm zu kurz, die seine Frömmigkeit als bloßen Spleen oder als leere Pose abtun.
Vor allem in seinen Essays und Briefen wiederholt er mit beinahe obsessiver Penetranz sein Credo: Wenn Christus nicht Gott ist und das Leben nicht in die Ewigkeit hinüberreicht, dann ist alles sinnlos.
Dieses Bekenntnis mit der Welt zu teilen ist sein wichtigstes Anliegen. Damals zogen die progressiven Bildungsbürger irritiert die Augenbrauen hoch. Heute ist vielen die religiöse Emphase des Dichters erst recht peinlich, sein Patriotismus ein absolutes No-Go. Er warnte vor den Folgen eines überzogenen Individualismus. Davor, dass die Volksgemeinschaft in lauter rivalisierende Mini-Identitäten zersplittern würde.
Seine Ausführungen bergen immer noch Zündstoff. Einem Shitstorm entgeht Dostojewski dadurch, dass er schon so lange tot ist. Das ist der Vorteil, wenn man ihn heute zu Wort kommen lässt. Too late to cancel.
Wenn man bei einigen seiner Zitate nicht weiß, dass sie von ihm kommen, denkt man unwillkürlich: «Der traut sich was.» Oder: «Endlich sagt’s mal einer.» Die Beschäftigung mit ihm ist relevanter und brisanter denn je.
Zugegeben: Nicht alles, was ihm aus der Feder fließt, ist unproblematisch oder gar sakrosankt. Mit einigen Polemiken schießt Dostojewski weit über das Ziel hinaus. Er wäre der Erste, der dafür bereitwillig Prügel einstecken würde. Wer nicht wagt, ergebnisoffen zu denken, Irrtumsmöglichkeit eingeschlossen, der gewinnt keine neuen Erkenntnisse.
Wenn es um die kleinen Leute und ihre Sorgen geht, zieht Dostojewski sich Samthandschuhe über; wenn er sich die elitären Bescheidwisser vornimmt, schwingt er die Abrissbirne. So oder so schreibt er gegen den Status quo.
Woher nimmt er die Chuzpe? Woher die Legitimation? Was hat er, was andere nicht haben?
Klug wird man bekanntlich aus Erfahrung. Und davon hatte Dostojewski mehr als Kant, Hegel und Nietzsche zusammengenommen. Das geht aus seiner eindrucksvollen Biographie hervor.
Wenn es stimmt, dass das Leben die besten Geschichten schreibt, dann hat es sich bei Dostojewski die allergrößte Mühe gegeben. Was er erlebt, ist noch faszinierender, als was er seinen Romanfiguren andichtet.
Aus seinen persönlichen Aufzeichnungen und den Berichten seiner Bekannten sind wir detailliert über seinen Werdegang informiert. Über ihn wurden mehr Biographien verfasst als über die allermeisten anderen Schriftsteller. Die längste ist fünf Bände dick. Im Vorwort erklärt der amerikanische Autor Joseph Frank, dass er sich vor allem auf das literarische Werk des Dichters konzentriert. Sonst wäre er im Ganzen womöglich bei vier- statt zweitausend Seiten gelandet. So viel ist über Dostojewski zu sagen.
Liest man diese oder andere Lebensschilderungen, sind herunter- geklappte Kinnläden vorprogrammiert.
Was für ein Leben!
Was für eine Quälerei!
Was für ein Happy End!
Wow!
Was Dostojewski in seinen 59 Jahren erlebte, reicht nicht nur für mehrere Folgen einer Fernsehserie, sondern für viele Staffeln. Aufgewachsen in einem Armenkrankenhaus, schaffte er es bis zum gern gesehenen Gast des Zarenpalastes. Zwischendurch irrlichterte er durch Knast und Salons, zwischen der kasachischen Steppe und dem Genfersee, ist umgeben von Serienkillern und Gottesmännern. Und nicht als neutraler Beobachter, sondern als Betroffener.
Über weite Strecken ist sein Lebenslauf ein Leidenslauf.
Er war noch keine 18 Jahre alt, da hatte er schon beide Eltern verloren. Mit 36 befand er sich in der Verbannung, hinter ihm lagen eine Scheinhinrichtung und vier Jahre in einem Straflager. Im Alter von 46 hat er bereits seinen geliebten Bruder, seine erste Frau und eine Tochter begraben.
Auch von seinen Romanzen endeten die meisten unglücklich – bis das Glück in Gestalt einer jungen Stenographin an die Tür seiner schäbigen Mietswohnung klopfte.
Kein anderer der großen russischen Schriftsteller seiner Zeit musste so hart für sein tägliches Brot arbeiten, keiner erlebte so viele Abstürze und feierte so umjubelte Comebacks. Das Schreiben war für Dostojewski überlebenswichtig – um nicht zu verhungern und um nicht durchzudrehen. Wie alle anderen hochbegabten Schreibkünstler war er ein schwieriger Patient, launisch, hypersensibel, aber in puncto Menschenfreundlichkeit dann doch eine Ausnahmeerscheinung. Von vielen Geistesgrößen seiner Zeit kann man das nicht behaupten.
Dabei verfolgte er eine Mission, die er bereits als 17-Jähriger formulierte:
«Der Mensch ist ein Geheimnis. Man muss es enträtseln.»
Was bei der Rätsel-Lösung herausgekommen ist, verrät dieses Buch.
Es ist keine gewöhnliche Biographie, denn erstens gibt es davon schon genug und zweitens über Dostojewskis Leben seit Jahren keine wirklich neuen Erkenntnisse mehr. Die Archive sind leergesucht, jeder Notizfetzen ausgewertet. Was noch fehlt, ist eine Gesamtschau der Weisheiten, die Dostojewski uns mitzuteilen hat. Dieses Buch ist deshalb keine klassische Lebensgeschichte, eher eine Lebensschule, besser noch: eine Weisheitsschule.
Die 20 Kapitel folgen zwar einer chronologischen Ordnung, beginnen mit Dostojewskis Geburt und enden mit seinem Tod. Sie sind dabei aber primär an seinem Projekt «Mensch-Enträtselung» orientiert. Und so, wie uns der junge Sträfling Dostojewski auch noch in den letzten Romanen begegnet, hat der alte Dostojewski bei uns auch schon ganz vorn einige Auftritte. Es geht vor und zurück in seinem Leben, hin und her zwischen seinen privaten Notizen und seinen veröffentlichten Werken, dazu kommt das, was seine Zeitgenossen über ihn sagten.
Die stärkste Wirkung ist immer die unmittelbare. Aus diesem Grund kommt Dostojewski wo immer möglich im O-Ton zu Wort. Die Bühne gehört ihm. Collagenhaft haben wir zusammengestellt und kommentiert, was wir für die Erkenntnis-Essenz seines Schaffens und Lebens halten. Dass wir Dostojewski direkt zu uns reden lassen, passt auch zu seinem eigenen Stil. In seinen Romanen wird ausgiebig palavert. Dostojewski war überzeugt davon, dass Menschen sich der Wahrheit am besten im Dialog annähern. Leben ist schließlich Beziehungssache.
Und so ist auch dieses Buch im Gespräch entstanden, als Kollaboration von zwei sehr guten Freunden. Wir teilen unter anderem Dostojewskis christliches Bekenntnis, sind aber in anderen Bereichen so gegensätzlich wie manche Charakter-Paare in seinen Romanen: der eine, Markus, ein Geisteswissenschaftler aus Leipzig, der gerne joggt und Lounge-Pop hört; der andere, David, ein Sportwissenschaftler aus Köln, der Kampfsport und knochenharten Metal bevorzugt. Bei Dostojewski, der sowohl zart als auch hart kann, sind wir ein Herz und eine Seele.
Wir laden alle Leserinnen und Leser ein, sich ebenfalls von ihm rocken zu lassen.
Und damit genug des Warm-ups.
Vorhang auf für Fjodor Michailowitsch Dostojewski.
Das Vorwort aus «Rock Me, Dostojewski!» von Markus Spieker & David Bühne (S.7 – 17)