Ein Glaube, der durch die Hölle trägt. Ein Interview mit Marianne Glaeser
Elisabeth Schoft redet mit Marianne Glaeser über ihr Buch «Anatomie eines Wunders». Sie reden über Herausforderungen, in einer anderen Kultur zu leben, über die Therapeutenarbeit mit traumatisierten Flüchtlingen und den Glauben, der dramatische Zeiten übersteht und Wunder erlebt.
Elisabeth: Du hast insgesamt 15 Jahre in Ostafrika verbracht. Wenn man sich deinen Werdegang so anhört, dann klingt das ziemlich beeindruckend. Und mir kommen da sofort ganz viele Fragen. Ich beschränke mich zunächst auf eine: Wie kam es überhaupt dazu, dass deine Familie 22 Jahre in Afrika, Asien und Italien gelebt hat?
Marianne: Es war die Entwicklungszusammenarbeit, die uns in die Welt hinausgeführt hat. 1994 hat es begonnen. Wir haben uns mit einem 3-Jahres-Vertrag mit einer österreichischen Organisation nach Tansania aufgemacht. Es war ein ländliches Dorfentwicklungsprojekt. Mein Mann ist Agraringenieur, ich war Lehrerin. So haben wir unsere Arbeit dort gemacht. Das war wirklich ländliches Afrika damals! Es war die «afrikanischste» Zeit, da waren wir im Busch. Aus den drei Jahren Tansania wurden sechs Jahre Tansania, gefolgt von zwei Jahren in Malawi in Lilongwe, wo unser jüngster Sohn geboren worden ist, und dann nochmal sieben Jahre Nairobi, Kenia. Danach ging es nach Südostasien, nach Laos, und dann noch vier bis fünf Jahre nach Rom, Italien.
Den ersten Vertrag hatten mein Mann und ich gemeinsam. Danach bin ich eher seinen Arbeitsverträgen gefolgt, die er mit unterschiedlichen Organisationen hatte. Ich hab mir immer am jeweiligen Standort Arbeit gesucht. Das hat natürlich auch gedauert. Das Umziehen und ein neues Nest bauen für die Familie war immer sehr anstrengend.
Das glaube ich. Es ist krass, dass man das Leben plant und aus drei Jahren werden auf einmal 22 Jahre, und man baut Familie und ist gar nicht in seinem Heimatland. Wie war das für dich? Was waren die größten Herausforderungen und die größten Freuden dabei, Familie in einer anderen Kultur zu bauen als in der eigenen?
Ich fange mit den Herausforderungen an. Der Umzug nach Afrika war schon sehr krass. Mein Mann und ich haben das mit sehr viel Enthusiasmus gemacht. Unsere zwei ältesten Kinder waren damals erst 7 und 2 Jahre alt. Elias, der Älteste, war wirklich sehr kooperativ. Das war toll, aber es war trotzdem schwierig. Wir sind in diese völlig fremde Umgebung gekommen und es war offensichtlich alles anders. Die Leute haben anders ausgeschaut, die Gerüche und Düfte waren anders, das Lebensgefühl war anders, die Erwartungen ans Leben waren anders, die Kommunikation unter den Menschen war anders. Das ist wirklich nicht einfach am Anfang! Auch für die Kinder nicht.
Ich erinnere mich, als wir in Musoma, in der Provinzstadt direkt am Victoriasee, lebten. Wir kamen nach drei Monaten Sprachschule in Tansania endlich nach Hause und wollten unbedingt an den Victoriasee zum Seeufer gehen. Wir sind losgegangen und nach zehn Minuten sind wir umgekehrt und haben die Tür hinter uns zugesperrt. Wir waren innerhalb von fünf Minuten umringt von einer Traube von afrikanischen Kindern, die aus allen Ecken und Enden plötzlich aufgetaucht sind und nichts lieber wollten, als die Haare unserer Kinder anfassen. Das war eine totale Rarität. Wir haben tatsächlich in den Dörfern manchmal erlebt, dass die Kinder schreiend von uns weggelaufen sind, weil sie noch nie einen Weißen gesehen hatten. Das war am Anfang schon schwierig, auch für die Kinder, so angestarrt zu werden. Das hat sich gelegt, als die Leute uns kennengelernt hatten und wir Teil der Community wurden.
Jetzt komm ich zu den schönen Dingen. Unsere Söhne hatten ihre Freunde in der Umgebung. Unsere Söhne wurden mit der deutschen Fernschule unterrichtet. Das war noch vor Computer und Internet – das war damals in Tansania erst am Aufkommen. Anfang des Semesters gab es ein riesen Paket mit Stundenplan und Tests, die ich ausgeteilt habe, wenn es dran war. Die Kinder haben sehr selbständig gelernt. Wir haben in einem verglichen mit den Lehmhütten luxuriösen Gebäudekomplex gelebt mit Beton-Bauten. Elias Freunde haben gewartet und wussten, dass er in der Mittagszeit ab 14 Uhr ungefähr fertig ist mit Schule. Und dann wurde über den Zaun gepfiffen. Und erst, als der Elias zurück gepfiffen hat, dann war das grünes Licht und die Freunde kamen daher. Und was uns wichtig war für unsere Kinder: Dass sie die Berührungsangst mit fremden Kulturen verlieren, damit sie einen größeren Horizont von der Welt bekommen. Und ich denke, das ist uns auch gelungen, denn sie haben alle einen sehr internationalen Freundeskreis.
Jetzt sind sie erwachsen. Du selbst warst als Lehrerin zuhause und hast deine eigenen Kinder unterrichtet. Mit 40 Jahren hast du dich entschieden, selbst nochmal die Schulbank zu drücken und ein Studium der Psychotherapie zu machen. Wieso hast du das studiert?
Nach 13 Jahren Afrika ergab sich die Möglichkeit, über Manchester University ein Masterprogramm in Nairobi zu machen. Allein aus dem Grund, weil es so viel Trauma gibt und so wenig Therapeuten. Ich hab mich dort angemeldet und konnte das Studium mit einer Leidenschaft machen, weil das menschliche Innenleben immer etwas war, was mich fasziniert hat. Nach 2 Jahren habe ich diesen Kurs abgeschlossen, und anders wie bei uns, wurde man sofort aufgefordert zu springen. Es gab kein Hospitieren und keine jahrelange Supervision. Diese Chance gibt es dort nicht. Als ich fertig wurde, hat sich ein sehr trauriges Arbeitsfeld aufgetan. Es waren die Tage des Bürgerkriegs nach den Präsidentschaftswahlen 2007. Es war ganz schlimm. Die zwei Hauptparteien repräsentiert durch die zwei Spitzenkandidaten. Es gab ganz offensichtlich Anzeichen von massiver Korruption. Es war ein Schlachtfeld, vor allem in den Slums. Was die Kinder dort miterlebt hatten, das war ganz arg schlimm. Und ich wurde angefragt, in einer Schule im größten Slum in Nairobi als Therapeutin auszuhelfen, weil die Kinder so schwer traumatisiert waren. Das habe ich ein Jahr lang gemacht ...